Der neue Mietspiegel: Bankrotterklärung einer Senatorin

Der neue Berliner Mietspiegel ist da, er attestiert dem Berliner Wohnungsmarkt eine jährliche durchschnittliche Mietsteige-
rungsrate von vier Prozent – und die Senatorin für Stadt-
entwicklung bricht in Jubel aus: In München und Hamburg sei ja alles noch viel schlimmer. Salzsäure ist gesünder als Blausäure…
Dabei ist der stadtweite Durchschnitt der Mietsteigerungen aus Prenzlauer Berger Sicht noch ein glatter Euphemismus. Hier wird ganz anders hingelangt. Betrug der Mittelwert für eine vor 1918 errichtete Altbauwohnung mit einer Größe zwischen 40 und 60 Quadratmeter mit Bad, WC und Sammelheizung in mittlerer Wohnlage – also einer typischen hiesigen Single-
wohnung – im Mietspiegel von 2009 noch 4,85 Euro, so sind in der 2011er Tabelle bereits 5,49 Euro verzeichnet – eine Steigerung von fast 13 Prozent in nur zwei Jahren!
Fast identisch sind die Zahlen bei gleicher Lage und Ausstattung in der familientypischen Wohnungsgröße von 60 bis 90 Quadratmetern. Netto kalt. Da sind die ebenfalls beträchtlich gestiegenen Nebenkosten (Heizung!) noch gar nicht mit inbegriffen.

Hausgemachte Entwicklung

Die Preisexplosion ist das vorhersehbare Ergebnis eines politischen Totalversagens, das sich ausgerechnet eine Koalition ans Revers heften muss, deren Parteien sich sozial, links oder gar sozialistisch nennen.

Ingeborg Junge-Reyer:
Gründlicher als jeder Immobilienlobbyist

Und es ist ganz speziell das Ergebnis der Tätigkeit einer Se-
natorin, der es an der Fähigkeit – und offenbar auch am po-
litischen Willen – mangelt, eine auch nur halbwegs sozial ausgerichtete Stadtentwicklungspolitik überhaupt erst einmal zu formulieren – vom Durchsetzen gar nicht zu reden. Was Ingeborg Junge-Reyer – erst als Staatssekretärin und ab April 2004 als Senatorin – in neun Jahren in verantwortlicher Position im Bereich der Berliner Stadtentwicklung geleistet hat, wäre von einem vom Verband der Grundstückseigentümer direkt auf ihre Position abgestellten Funktionär wohl kaum gründlicher zu erledigen gewesen.
Allein die Aushebelung von Paragraf 5 des Wirtschaftsstraf-
gesetzbuches
mittels einer obskuren Leerstandszählmethode war ein Bubenstück sondergleichen. Mit dem sogenannten Stromzähler-Verfahren wurden Leerstandsquoten generiert, die es Vermietern ermöglicht, bei Neuvermietungen auch über die im Gesetz festgeschriebene Kappungsgrenze von plus zwanzig Prozent hinaus den Mietpreis zu erhöhen. Wie unseriös die junge-reyersche Zählmethode tatsächlich ist, hatte eine Testzählung des Berliner Mietervereins aus dem Jahr 2009 ergeben. Statt der von der Senatsverwaltung behaupteten über 100.000 leerstehenden vermietbaren Wohnungen, kam man dabei nur auf knapp die Hälfte. Viele Wohnungen seien wegen Umbau und Modernisierung nicht vermietbar, auch sei von Eigentümern in Erwartung höherer Mieten leer gehaltener Wohnraum nicht aus der „Stromzähler-Erfassung“ herausgerechnet worden.

Bruchbuden als vermietbarer Leerstand geführt: Glaube nur der Statistik, die du selbst...in Auftrag gegeben hast.

Mastschweine werden in Berlin seriöser gezählt, als leerstehende Wohnungen

„Bruchbuden in der Statistik“ titelte daraufhin die Taz und zitierte den damaligen Hauptgeschäftsführer des Mietervereins Hartmann Vetter mit den Worten: „Es ist absolut unerträglich, dass man über die Anzahl der in Berlin gehaltenen Mast-
schweine gesicherte statistische Werte hat, bei essenziellen Wohnungsmarktdaten aber im Trüben fischt.“ Und im Tages-
spiegel stellte Arnt von Bodelschwingh
, nach Meinung des Blattes der „Verfasser des wohl gründlichsten Berichtes über den Berliner Immobilienmarkt“, fest: „Wohnungen stehen aus den unterschiedlichsten Gründen leer, die Quote an sich sagt wenig über die Anspannung des Wohnungsmarktes aus.“

Die faktische Unwirksamkeit des Mietwucherparagrafen durch die senatsamtlich mittels „Stromzähler-Methode“ generierten Leerstands-Zahlen zeitigte aber noch einen weiteren Effekt: Nicht nur die ohnehin schon sehr großzügige Kappungsgrenze von 20 Prozent bei Neuvermietungen von Wohnraum wurde unwirksam, sondern auch das Zweckentfremdungsverbot. Eine entsprechende Verordnung wurde 2002 durch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin für verfassungswidrig erklärt. Dass es in Berlin keinen Wohnungsmangel gäbe, der eine Zweckentfremdungsverordnung rechtfertige, so die Richter in ihrer Urteilbegründung, ergebe sich schon aus den eigenen Einschätzungen des Berliner Senats. Ingeborg Junge-Reyers Amtsvorgänger und Parteifreund Peter Strieder war seinerzeit mit der Behauptung hausieren gegangen, in Berlin stünden bis zu 150.000 vermietbare Wohnungen leer. Belastbare Quellenangaben für seine Darstellung hatte er allerdings nicht vorzuweisen – Strieder konnte damals nicht einmal auf das erst später eingeführte „Stromzählerverfahren“ zurückgreifen.

Senatsstudie bestätigt Berechnungen des Mietervereins

Nach dem OVG-Urteil breitete sich die Umwandlung von Wohn- in Gewerberäume wie eine Seuche aus. Besonders die Einrichtung von Ferienwohnungen wurde in den letzten Jahren zu einem überaus lukrativen Geschäft, das gerade in sogenannten „Szene-Vierteln“ wie Prenzlauer Berg oder Friedrichshain boomt. Als der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit kürzlich behauptete, allein in Kreuzberg-Friedrichshain stünden 10.000 Wohnungen leer und daraus schlussfolgerte, an bezahlbarem Wohnraum herrsche in Berlin kein Mangel, höhnte Bezirksbürgermeister Franz Schulz: „Offenbar hat Wowereit nach Ferienwohnungen gegoogelt.“

BBI-Studie: 75.000 Wohnungen wegen Modernsierungsarbeiten nicht vermietbar

Eine im April dieses Jahres von der Investitionsbank Berlin-Brandenburg (IBB) im Auftrag des Senates erstellte Studie bestätigte schließlich die Darstellung des Mietervereins. Von den aktuell ermittelten über 130.000 leerstehenden Wohnungen fallen danach rund 75.000 wegen laufender Modernsierungsmaßnahmen aus dem Leerstandsbestand heraus. Weitere 14.000 Wohneinheiten seien auf Grundihres baulichen Zustandes unvermietbar. Der verbleibende Rest sei zwar „marktaktiv“, ist aber als unbedingt notwendige „Fluktuationsreserve“ anzusehen, um Wohnungswechsel und Instandhaltung zu ermöglichen.

Mittlerweile ist selbst der Verband Berlin-Brandenbur-
gischer Wohnungsunternehmen e.V. (BBU) von der Behauptung übermäßigen Leerstandes abgerückt und warnt vor gravierenden Engpässen. Für Prenzlauer Berg sei nur noch eine Fluktuationsreserve von 1,6 Prozent des Wohnungsbestandes vorhanden – allgemein werden 3 Prozent als notwendig angesehen.

Senatorin wird zur Belastung für die eigene Partei

Was sich inzwischen sogar schon bis zum Lobbyverband der Grundstückseigentümer herumgesprochen hat, ist für die Bezirkspolitiker jeglicher Coleur seit Jahren täglich erlebte Realität. Wenn auch mit variierenden Lösungs-
ansätzen und unterschiedlicher Intensität, wird vor Ort parteiübergreifend der Versuch unternommen, die ver-
heerenden Auswirkungen der verfehlten Senatspolitik einzudämmen. Und dies durchaus nicht ohne Ergebnisse.

Erfolgsgeschichte Glaßbrennerviertel:
Tropfen auf dem heißen Stein

Aber auch solche Erfolgsgeschichten, wie die der „Umstruk-
turierungssatzungen“ für die Grüne Stadt oder das Glaßbren-
nerviertel
in Prenzlauer Berg fallen bei einer Gesamtbetrach-
tung kaum ins Gewicht – zumal jeder Einzelfall vom Good-Will des Eigentümers abhängig ist.

Doch Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer ficht das nicht an. Bei der Vorstellung des neuen Mietspiegels schwadronierte sie erneut über den angeblich in Berlin vorhandenen großen Bestand an leerstehenden Wohnungen und darüber, dass von Wohnungsmangel keine Rede sein könne.
Mit ihrer andauernden Realitätsverweigerung ist die Senatorin mittlerweile selbst für die eigene Partei zu einer unberechen-
baren Belastung geworden – zumal sich gerade die Woh-
nungspolitik mehr und mehr zum zentralen Wahlkampfthema herauskristallisiert. So ging ein Aufatmen durch die Berliner SPD, als im November vergangenen Jahres kolportiert wurde, Ingeborg Junge-Reyer wolle sich mit dem Ende der Legislaturperiode aus der aktiven Politik zurückziehen. Umso größer war die Ernüchterung, als sie im März erklärte, weiter amtieren zu wollen.

Auch wenn niemand namentlich genannt werden will: Unter den SPD-Mitgliedern an der Basis macht sich immer mehr Unwille über die Senatorin breit. Sie wollen nach der Wahl einen einen personellen Wechsel im Stadtentwicklungsressort. Andere Genossen gehen sogar noch ein Stück weiter. „Egal wie die Wahlen ausgehen“, erklärte kürzlich ein gestandener Sozialdemokrat dem Autor dieser Zeilen so ganz im Vertrauen, „eines darf auf gar keinen Fall passieren: Ein erneut von der SPD geführtes Stadtentwicklungsressort.“

 

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Weitere Beitäge zum Thema:

Hartz-IV: „Kostensenkungsverfahren“ dramatisch gestiegen

Peter Brenn: „Pankow – eine Großstadt für alle“

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Sebastian Schnurre: „Kontraproduktive Maßnahmen für Kiezstruktur stoppen!“

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4 Kommentare zu “Der neue Mietspiegel: Bankrotterklärung einer Senatorin”

  1. Michael Steinbach

    Jun 02. 2011

    Super Bericht ODK!

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  2. Stefan Senkel

    Jun 03. 2011

    danke für den guten und kenntnisreichen Artikel. Zu ergänzen wäre noch, dass der rot-rote Senat trotz dieser Zahlen die Erstattung Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) für ALG II-Bezieher_innen in der von ihm verantworteten AV-Wohnen wieder einmal nicht erhöht hat. Wer in alle Wahlkämpfe mit dem richtige Slogan „Hartz IV muss weg“ zieht, sollte da anfangen, wo er die Situation für die Betroffenen ganz unmittelbar ändern kann. In Berlin sind das die Wohnkosten.

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  3. cairos

    Jun 06. 2011

    diese unglaubliche Senatorin begründet die eklatanten Mietsteigerungen der letzten 2 Jahre doch tatsächlich mit „Nachholeffekten wegen der glücklich überstandenen Finanzkriese…“ – toll, nicht? (vgl. Interview in Berliner Abendschau vom 30.05.2011) …wie kann man das Publikum nur für so blöd halten..?

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  4. NachmieterExpress

    Mrz 11. 2012

    Die durchschnittlichen Mietsteigerungen geben kaum die Realität in den zentrumsnahen Bezirken wieder. Aus Erfahrung und den Statistiken aktuell zur Vermietung stehender Wohnungen in Immobilienportalen muss man von einer Steigerung von 10-20% ausgehen.

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