„1. es ist kein Rauswurf und 2. keiner hat sich den Zeitpunkt und das alles so ausgesucht“ twitterte die wohnungspolitische Sprecherin der Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus, nachdem die geplante Versetzung von Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner in den einstweiligen Ruhestand publik wurde.
Das, was bisher bekannt wurde, spricht eine andere Sprache.
Denn die Entfernung Kirchners aus dem Amt erfolgte, obwohl laut Berliner Morgenpost ein „Ärztliches Bulletin“ vorlag, das dem Politiker ab dem Frühjahr wieder die volle Arbeitsfähigkeit bescheinigt. Dass die Senatorin darüber hinaus das Angebot Kirchners ausschlug bis dahin – mit ausdrücklicher ärztlicher Billigung – den Dienst schon mal wieder als „Halbtagsstaatssekretär“ aufzunehmen, ausschlug, obwohl die personelle Lage laut Schmidberger „verzweifelt“ ist, straft die Aussage Günthers gegenüber dem rbb „Ich habe gerne und sehr gut mit ihm zusammengearbeitet“ Lügen.
Maulkorb schon vor eineinhalb Jahren
Das Verhältnis zwischen Senatorin Regine Günther und ihrem Staatssekretär war schon seit längerem nicht unbedingt von tiefer Zuneigung geprägt, was auch an den unterschiedlichen Temperamenten liegen mag.
Neben Kirchner, der bereits als langjähriger Bezirksstadtrat in Pankow berlinweites Ansehen genoss und bei den Medien wegen seiner offenen, zuweilen auch ruppigen Art einen gewissen Kultstatus genoss, blieb die vom WWF Deutschland geholte verwaltungsfremde Klimaexpertin stets blass.
Dass sie – anders als ihr Staatssekretär – auch Monate nach ihrem Amtsantritt von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, mag an ihrem Ego gekratzt haben. Als Kirchner im April vergangenen Jahres während einer Fahrradmesse polterte, die Parkgebühren in Berlin seien „eine Frechheit“ , auf die Beispiele Zürich und London verwies, wo ganz andere Preise aufgerufenen werden und der Tagesspiegel daraufhin titelte, „Parken für Anwohner in Berlin wird teurer“, hatte die Senatorin einen Anlass, Kirchner einen Maulkorb zu verpassen.
Seither gab es – mit Ausnahme eines Interviews mit der Prenzlberger Stimme im Januar dieses Jahres – von Kirchner keine direkten Pressestatements mehr.
Verbraucherschützer soll den Verkehrsfachmann ersétzen
Wenn auch die Bau- und Wohnpolitik in seiner Zeit als Pankower Stadtentwicklungsstadtrat zuweilen ambivalent war – in Sachen Mobilität vertrat er schon damals konsequent die Linie, die heute erklärte Senatspolitik ist: Vorrang von ÖPNV, Rad- und Fußverkehr. Von manchen wurde er deshalb als „Autohasser“ gescholten.
So war es fast selbstverständlich das Kirchner Dezember 2016 kurz vor seinem Dienstantritt als Staatssekretär selbstbewusst erklärte: „Ich werde die landesweite Umsetzung der Radverkehrsstrategie begleiten, umsetzen und sicherlich auch maßgeblich prägen.“
Doch die gesetzgeberischen Vorbereitungen dauerten länger, als Kirchner es sich gewünscht hatte. Erst im Juni dieses Jahres passierte das Mobilitätsgesetz das Abgeordnetenhaus. Fast zum selben Zeitpunkt wurde sein Krankheit diagnostiziert.
Seither ging – abgesehen von der vorbildlichen Fahrradstrrecke an der Holzmarkstraße mit der lebensgefährlichen Kreuzungsweiche – in Sachen Radverkehr kaum etwas voran. Kirchner fehlte offenbar an allen Ecken und Enden.
Dass die Senatorin nun ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, an dem der Staatssekretär zumindest eingeschränkt wieder arbeitsfähig ist und die Genesung in Reichweite scheint, die Reißleine zieht, lässt tief blicken.Noch tiefer wird der Einblick, wenn man sieht, wer sein Nachfolger werden soll: Der Biologe Ingmar Streese, derzeit noch Leiter des Geschäftsbereichs Verbraucherpolitik bei der Verbraucherzentrale Bundesverband.
Streese, der vor seiner Tätigkeit bei der vzbv Referatsleiter im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft verantwortlich für die Koordinierung und Strategie der Abteilung für Nachhaltige Landwirtschaft und Biobasierte Wirtschaft war, ist mit Sicherheit ein hervorragender Verbraucherschützer – von Verdiensten um eine Verkehrswende oder auch nur die Kenntnis der Untiefen der Berliner verwaltung ist hingegen nichts überliefert.
Dass Senatorin Günther sich nun entschieden hat, anstelle des sachkundigen Kirchner einen Fachfremdem ins Amt holt, ist entweder dem Umstand geschuldet, dass sie für eine Mitarbeitnuter ihrer Ägide sonst niemand gewinnen konnte – oder aber dass es ihr mit der Verkehrswende nicht ganz so ernst ist.
Empörung und Unverständnis fast überall
Diesen Eindruck hat auch der fahrgastverband IGEB, der auf Facebook den Vorgang so kommentiert:
Empörung und Unverständnis auch bei den Parteien. So twitterte Danny Freymark, umweltpolitischer Sprecher der der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus
https://t.co/RzeXzxRQIU Was sagt das über die Koalition aus, den an Krebs erkrankten und top versierten Staatssekretär Kirchner so zu entlassen? Ich finde solche Vorgänge sehr merkwürdig! Danke für Ihr Engagement Herr Kirchner. Ich habe gerne mit Ihnen zusammengearbeitet.
— Danny Freymark (@dannyfreymark) 5. Dezember 2018
Christoph Meyer, Landesvorsitzender der Freien Demokraten schrieb bezugnehmend auf den von Senatorin Günther genannten Entlassungsgrund:
#Krebs ist kein Entlassungsgrund. Dilettantismus in Bezug auf die #Fahrverboten in #Berlin jedoch schon, Senatorin #Günther. Man glaubt, bei #R2G geht’s nicht noch schlimmer, aber dann zeigt ein Regierungsmitlgied, dass es doch geht. @MKrekel_BILDde TMhttps://t.co/PzfBrwaoky
— Christoph Meyer (@ChristophFDP) 6. Dezember 2018
Doch auch in den eigenen Reihen herrscht teilweise Fassungslosigkeit über den Rauswurf Kirchners.
„Wir Pankower Grünen haben davon aus der Presse erfahren und sind natürlich entsetzt“, erklärte Kirchners Kreisverband gegenüber der Prenzlberger Stimme.
Der bündnisgrüne Abgeordnete Andreas Otto zeigte ebenfalls Unverständnis: „Den besten Verkehrsfachmann in Berlin rauszuschmeißen, weil er krebskrank ist und vielleicht noch ein paar Wochen bis zur Genesung braucht, das macht man nicht“.
Pankows Bezirksbürgermeister Sören Benn zeigte sich ebenfalls konsterniert:
Die Versetzung eines genesenden und seine Arbeit liebenden JHK in den Ruhestand in Kombi mit der Berufung eines in der Sache Unerfahrenen macht nichts besser, in keiner denkbaren Hinsicht. Revision wäre ein Akt souveräner Klugheit und menschlicher Größe.
— Sören Benn (@SoerenBenn) 6. Dezember 2018
Gallig waren auch die Kommentare von Pressevertretern. So schreibt die taz-Journalistin Barbara Junge:
Neues aus dem Reich von Despotin Regine I. (Im bürgerlichem Beruf Senatorin in Berlin): brillanter Checkpoint heute zum skandalösen Umgang mit ihrem aus langer Erkrankung rückkehrwilligen und fachlich sehr geschätzten Staatssekretär Kirchner. https://t.co/p6zeG7IvCt
— Barbara Junge (@BarbaraJunge) 6. Dezember 2018
Und Lorenz Maroldt vom Tagesspiegel stellte passend dazu im morgendlichen Newsletter „Checkpoint“ fest:
„Dabei haben selbst 30 % Kirchner einen höheren Verkehrswert als 100 % Günther.“
Ernster äußerste sich der ehemalige Pankower Kreisvorsitzende Sergey Lagodinsky auf Facebook
Udo Götsche via Facebook
Dez 06. 2018
das die Politik mittlerweile nur noch aus Kompetenzattrappen besteht, macht eben Schule… ?
Anne-Kathryn Bathe via Facebook
Dez 06. 2018
menschlich u fachliche ne sauerei !!!
Anne-Kathryn Bathe via Facebook
Dez 06. 2018
mensch nilson gute besserung 🙁
Hans-Dieter Goerke via Facebook
Dez 07. 2018
Gott sei dank, Verkehrsexperte, entschuldige aber da muss ich lachen. Komm nach Karow und guck dir den Scheiß an , den er verzapft hat.
Christoph Krone via Facebook
Dez 07. 2018
…ohne Kirchner lebt sich’s besser…