Wenn eine Zeitung sich einen Senator wünscht…

zwischenruf

 

Mit dem Wünschen ist das ja auch so eine Sache.

Die Berliner Medien zum Beispiel wünschten sich den Pankower Bezirksstadtrat Jens-Holger Kirchner als Senator für Verkehr und Umwelt.
Ganz besonders stark war dieser Wunsch wohl beim Tagesspiegel ausgeprägt.

Erkennen konnte man das daran, dass dort (fast) nur Kirchners Name diesen Posten genannt wurde. So schrieb die Zeitung am 16. November immerhin noch unter der konjunktiven Überschrift „Wer welchen Senatsposten bekommen könnte„:

Der Pankower Stadtrat für Stadtentwicklung, Jens-Holger Kirchner, wäre ein Anwärter, wie Pop ist er ein Vertreter des Realo-Flügels. Nach der parteiinternen Arithmetik müsste dann der dritte grüne Senator von den Parteilinken kommen. Das könnte Rechtspolitiker und Richter Dirk Behrendt sein, der nicht mehr für das Abgeordnetenhaus kandidiert hatte. Als anerkannter Experte wäre er für das Justizressort geeignet.

Tags darauf war man schon einen Schritt weiter. In einem Beitrag unter der Überschrift „Zehn Fragen, zehn Antworten zum Koalitionsvertrag“ wurden die zukünftigen Senatoren vorgestellt – beziehungsweise jene Politiker, die nach Meinung der Zeitung die Senatoren werden sollen.

Bei den Grünen Ramona Pop und Dirks Behrendt war die Sache soweit klar: Sie wurden vom Fraktions- und Parteivorstand vorgeschlagen und galten daher als gesetzt. Aber dann:

„Verkehr und Stadtplanung – wofür steht Senator Jens-Holger Kirchner?“ hieß in der

Den entscheidenden Fehler in dieser Aufstellung – es geht um Prozentrechnung – bemerkten die Autoren nicht.
 
Gefangen in der Verwechslung von Wunsch und Realität, sah der Tagesspiegel in seinem Bezirks-Newsletter vom selben Tag bereits einen Pankower Stadtrats-Notstand heraufziehen:
 
ts

 

Ganz schlimm: Wunsch trifft auf Realität

Einen weiteren Tag später, am 18. November, fielen der Redaktion die ersten Diskrepanzen zwischen ihrer zur Tatsachenbehauptung geadelten Wunschvorstellung und der ignoranten Realität auf:

Der Pankower Stadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne), der in den vergangenen Tagen als neuer Verkehrs- und Umweltsenator im Gespräch war, kann das Amt wohl nicht übernehmen. Das überrascht, da die Berliner Grünen keinen anderen vergleichbar profilierten und als Behördenleiter erfahrenen Verkehrsexperten haben. Auch unterstützt Kirchner die Koalitionsvereinbarung klar.

Überraschend?

Nö.

Wenn tatsächlich etwas überraschte, dann war es die zur Schau getragene Unkenntnis der Politikredakteure des Tagesspiegels über die Grundsätze einer angehenden Regierungspartei.

Andererseits: Der Beschluss der Grünen, dass Ämter stets zu mindestens fünfzig Prozent mit Frauen besetzt werden müssen, ist ja gerade erstmal dreißig Jahre alt. Und selbst Redakteure einer renommierten Tageszeitung können nicht bei allen Details auf dem neuesten Stand sein.

Wenn man derart von der Realität vor den Kopf gestoßen wird, ist natürlich nicht das eigene Nichtwissen, sondern die Realität schuld. Folgerichtig titelte der Tagesspiegel am 23. November:

„Senatoren-Suche der Grünen – Bedingt regierungsfähig“

Um dann nachzulegen:

Es ist jetzt Aufgabe des Landesvorstands, einen Personalvorschlag vorzulegen und den Flügelstreit zu beenden. Oder die Grünen bitten die Berliner gleich um ihre Vorschläge für einen Verkehrssenator. Ganz im Sinne von gutem Regieren.

Klar. Wenn sich die Partei schon nicht die Personalie des Tagesspiegels zu Eigen macht, dann hat sie gefälligst gleich und sofort einen anderen Namen zu nennen und nicht erst bis zur offiziellen Vorstellung beim „Landesausschuss“ genannten kleinen Parteitag zu warten. Alles andere wäre ja auch nahe an der… Regierungsunfähigkeit.

 

Scharf nachgefragt: Warum ignorieren Sie die Wünsche des Tagesspiegels?

Spätestens nachdem die Bündnisgrünen rechtzeitig vor der Zusammenkunft des Landesausschusses die Personalfrage mit einer respektablen Kandidatin die weder „links“ noch „rechts“ stand auflöste, und somit außerhalb der vom Tagesspiegel beschrieenen Kategorien lag, hätte man den Fehlläufer in der Berichterstattung nun stillschweigend begraben können.

Hätte.

Nicht so der Tagesspiegel.

Also musste der irritierenden Erkenntnis, dass sich die Bündnisgrünen einfach nicht nach der Vorgabe des Tagesspiegels gerichtet hatten, in einem am 25. November veröffentlichten Interview mit Ramona Pop noch einmal Raum gegeben werden.
 
popinter

 

(…)Und er kommt zu dem Ergebnis:
»Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil«, so schließt er messerscharf,
»nicht sein kann, was nicht sein darf.«

(Aus Christian Morgenstern: „Die unmögliche Tatsache“)

 

 



2 Kommentare zu “Wenn eine Zeitung sich einen Senator wünscht…”

  1. schwimmblogberlin

    Nov 26. 2016

    Hallo AutorIn

    ich habe, aus anderen Gründen*, die Berichterstattung (nicht nur im Tagesspiegel) zu genau dieser Senatoren Frage verfolgt.
    Ich habe, im Gegensatz zu Ihnen, nirgends herauslesen können, dass sich (verschiedene) Tagesspiegel Journalisten einen bestimmten sEnator wünschen.
    Die angeführten Beispiele lese ich eher so, dass die Autoren über Kompetenz einer Person berichtet haben.

    *Grund, genau diese Artikel zu verfolgen war (mein) Ärger im Bezug auf die BVV in meinem Bezirk.
    Als Wählerin einem bestimmten Kandidaten mit meiner Stimme in die BVV zu verhelfen und dann jemand anderen vor die Nase gesetzt bekommen.

    Es waren genau die erwähnten Artikel, die mir erklärten, warum (hier dann Kirchner) Kandidaten für eine BVV möglicherweise besser für eine andere Position geeignet sind als vorgesehen

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    • von ODK

      Nov 26. 2016

      Drei Senatorenplätze hatten die Grünen zu besetzen; Dirk Behrendt (Justiz) und Ramona Pop (Wirtschaft) wurden von Vorstand und Fraktion bereits gesetzt. Da bei den Grünen der unabdingbare Grundsatz gilt, dass Ämter mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt, war Kirchner automatisch raus.
      Dass der Tagesspiegel dennoch lustig weiter Jens-Holger Kirchner zum künftigen Senator ausrief und sogar als Tatsachenbehauptung von einer notwendigen Neubesetzung des das ja nun angeblich freiwerdenden Stadtratsposten sprach, ist, mit Verlaub bizarr. Denn die Quotenregelung bei den Grünen ist nicht neu – sie gilt verbindlich bereits seit drei Jahrzehnten. Da stellt sich schon die Frage, was die Kollegen vom Tagesspiegel geritten hat, das einfach mal so zu ignorieren.

      Einen „Stadtratnotstand“ auszurufen, weil der aktuelle Amtsträger angeblich Senator wird, ist schon deshalb peinlich, weil zu diesem Zeitpunkt längst feststand, dass Jens-Holger Kirchner auf keinen Fall mehr Senator werden kann. Nicht weil er inkompetent oder zu wenig „links“ wäre. Der Grund wurde oben angeführt:

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