Jahrhundertprojekt Fahrradstraße

 

Es ist ja nun nicht so, dass irgendwo überbordende Eile an den Tag gelegt worden wäre.

Im Oktober 2014 brachte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ein, in dem das Bezirksamt „ersucht“ wurde, in Pankow eine ganze Reihe neuer Fahrradstraßen einzurichten. Darunter befand sich auch die Route Gleimstraße /Stargarder Straße.

Fahrradstraßen sind ganz gewöhnliche Straßen, in denen der Radverkehr Vorrang hat. Offiziell dürfen nur PKW von Anwohnern solche besonderen Fahrradzonen befahren – wer allerdings einmal in der zur Fahrradstraße umgewidmeten Choriner Straße den Verkehr beobachtet hat, weiß, dass das eher ein Wunsch, denn eine durchsetzungsfähige Anordnung ist.

Dennoch war das damals den anderen Mitgliedern des Verkehrsausschusses wohl schon zuviel der Forderungen – und so überzeugten sie die Antragsteller, doch erst einmal einen „Prüfauftrag“ zu formulieren.

Nach einigen Vertagungen wurde nur knapp zwei Jahre später der so geänderte Antrag im September 2016 von der BVV beschlossen.
 

Kein Ausbau nötig, Kosten gering

Mit Datum des 15. November 2016 – für Pankower Verhältnisse also mit annähernder Lichtgeschwindigkeit – meldete das Pankower Bezirksamt in Person des damaligen Bezirksstadtrates Jens-Holger Kirchner Vollzug.
Bezüglich der der Stargarder Straße lautete der Tenor: Kann man machen, der Aufwand ist gering. Wörtlich hieß es dazu in der vom Bezirksamt beim Senat eingeholten Stellungnahme:

„Weitergehende Ausbaumaßnahmen sind nach derzeitigem Stand nicht erforderlich und meinerseits im Rahmen der Realisierung dieser Route nicht vorgesehen; die Anordnung als Fahrradstraße würde die Funktion der Straßen jedoch unterstreichen, die mittelfristig vorgesehene Wegweisung unterstützen und wäre daher grundsätzlich zu begrüßen. Ggf. wären die relativ geringen Kosten für Beschilderung und Markierung auch aus dem Titel 52108 finanzierbar

Bei der Gleimstraße müsste allerdings zuvor bei der Senatsverwaltung die Entlassung aus dem übergeordneten Straßennetz beantragt werden. Für die Einrichtung der Fahrradstraße selbst sei allerdings die Verkehrsbehörde des Bezirkes zuständig.

Kurz darauf verließ Kirchner das Bezirksamt in Richtung Senat und wurde dort Verkehrsstaatssekretär.

Kaum im Amt, dachte er mal eben kurz, aber laut darüber nach, dass man doch mal eben die Gleimstraße zur Fahrradstraße umwidmen könnte. Manche Medien verwechselten lautes Nachdenken mit einer konkreten Ansage und beleuchteten allerlei Für und Wider einer solchen Fahrradstraße.

Das hielt rund eine Woche vor, dann war die Sau… – pardon – das Fahrrad durch Dorf getrieben, und es krähte erst einmal kein Hahn mehr danach.
 

SPD-Ortsvereinsvorsitzender fühlte sich „überfahren“

Als allerdings im Sommer dieses Jahres im Land ein Bundestagswahlkampf veranstaltet wurde, suchte die örtliche SPD händeringend nach einem Thema, auf dem die Partei nach Rekord-Rüstungsexporte, Hartz-4-Verschärfungs- und Antigewerkschaftsgesetz, nach CETA-Zustimmung, Schein-Mietpreisbremse und so weiter möglicherweise doch noch einen Hauch von Glaubwürdigkeit vorweisen könnte.

Die scheinbar rettende Idee hatte ein Prenzlauer Berger SPD-Abteilungs-(Ortsvereins)Vorsitzender, der unbestätigten Gerüchten zufolge in seinem vorherigen Leben ein Auto gewesen sein soll – was seine schon früher auffällige Prioritätensetzung (Kinder nur da, wo sie die Autos nicht stören) erklären würde.

Ohne Kenntnis des Verfahrensstandes – und offenbar auch ohne jegliche weitere Sachkenntnis – ließ der Mann im Juni auf wertvollem SPD-Papier Alarm-Flyer drucken, in dem die Angst geschürt werden sollte, die Einrichtung einer Fahrradstraße komme quasi über Nacht in einem Verfahren „bei dem die Bürgerinnen und Bürger gleichsam ‚überfahren‘ werden“.

Danach kehrte, ohne dass es irgend welche Überfahr-Opfer gegeben hätte, wieder Ruhe ein.
 

„Dann fangwa jleich an“ (Otto Reutter). Oder auch nicht (Bezirksamt Pankow)

Um den tatsächlichen Stand der Dinge zu erfahren, richtete Mitte August der Vorsitzende der SPD-Fraktion in der Pankower BVV Roland Schröder – der, anders als sein Genosse Abteilungsvorsitzender, auch Fahrradstraßen offen gegenüber steht – eine Kleine Anfrage an des Bezirksamt.

Zwei Mal bat der zuständige Bezirksstadtrat Vollrad Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) um eine Fristverlängerung, weil zur Beantwortung „die Einholung von Zuarbeiten aus Fachbereichen anderer Abteilungen erforderlich“ seien, die aber leider noch nicht geliefert wurden.

Mit Datum des 5. Oktober bekam Schröder dann endlich die Auskunft auf all seine Fragen, die zusammengefasst so lauteten: Still ruht der See.

„Aus verkehrsbehördlicher Sicht“, so Stadtrat Kuhn,

„ist im Vorfeld eine dringende Prüfung und Untersuchung erforderlich, um eine fachlich exakte und
nicht verwaltungsrechtlich anzweifelbare Anordnung für eine künftige Fahrradstraße treffen zu können.“

„Nicht verwaltungsrechtlich anzweifelbare Anordnung“ – möglicherweise ein dezenter Hinweis auf Schröders Genossen Martin M. und dessen Anhang, der sich wieder einmal „überfahren“ fühlen und sich statt auf den Rad-, auf den Klageweg begeben könnte.

Warum allerdings noch nicht einmal die Entlassung der Gleimstraße aus dem übergeordneten Netz beantragt wurde, ist mit dieser durchaus gebotenen Vorsicht nicht zu erklären.
 

„Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs“

Obwohl die Stargarder Straße keine übergeordneter Verkehrsweg ist und deshalb auch nicht umgewidmet werden muss, hat sich auch hier noch nichts bewegt.

Auch „die Anordnung der Stargarder Straße als Fahrradstraße“, schreibt der Bezirksstadtrat, „wurde noch nicht beantragt.“ Denn:

„Gemäß der vorliegenden Stellungnahme der Straßenverkehrsbehörde muss die Straße vor ihrer Einrichtung als Fahrradstraße durch Teileinziehung dem Radverkehr angepasst werden. Durch Zusatzzeichen können auch andere Verkehrsarten ausnahmsweise, vor allem für Kfz der Anlieger und eingeschränkt Müllfahrzeuge, zugelassen werden. Vor einer Anordnung müssen die Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs ausreichend berücksichtigt werden (alternative Verkehrsführung).“

Mal davon abgesehen, dass nicht ganz einleuchtet, warum ausgerechnet Fahrzeuge der Müllabfuhr in einer Fahrradstraße nur „eingeschränkt zugelassen“ werden sollen, stellt sich natürlich die Frage, welche „Bedürfnisse“ der Kraftfahrzeugverkehr neben dem Anwohnerverkehr in einem Wohngebiet so haben könnte.

Egal.

Wann also ist mit dem Ergebnis der Untersuchung über die „Bedürfnisse des Kraftfahrzeugverkehrs“ zu rechnen? Vollrad Kuhn:

„Für die Beauftragung der verkehrlichen Untersuchungen fehlen zurzeit noch personelle und fachlich qualifizierte Kapazitäten. Darüber hinaus stehen für die Finanzierung von verkehrlichen Untersuchungen gegenwärtig keine Mittel zur Verfügung. Wir streben jedoch an, in Zukunft ämterübergreifend andere Mittel z. B. aus der Wohnungsbauprämie bzw. aus Stadtumbauprogrammen auch hierfür einzusetzen. Die in Kürze zu erwartenden Stellenbesetzungen mit Verkehrsplanern wird die Beauftragung und Betreuung entsprechender Maßnahmen unterstützen.“

 

Ausblick

Die Fahrradstraßenstrecke Gleim- und Stargarder Straße wird sechs Monate nach Eröffnung Berliner Großflughafens „Willy Brandt“ (BER) feierlich ihrer Bestimmung übergeben.

Beziehungsweise sollte übergeben werden.

Die Beschilderung „Fahrradstraße, frei für Anlieger“ musste wieder entfernt werden, nachdem einen Tag vor der Eröffnung beim Verwaltungsgericht die Klage eines sich überfahren fühlenden Anwohners eingegangen war.

Seitens des Bezirksamtes wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, die Fahrradstraße am Tag der Landung des ersten Menschen auf dem Mars eröffnen zu können.

 

Weitere Artikel zum Thema:

Fahrradstraße in der Stargarder???!!! – Ach was. Die SPD-Blechfraktion macht trotzdem mobil

 

 


 

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7 Kommentare zu “Jahrhundertprojekt Fahrradstraße”

  1. Unter Umständen die wir schon lange haben ! Vieviele TOTE braucht es noch um endlich zu reagieren?

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  2. ??… den Nagel auf den Kopf getroffen !

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  3. Was soll der Sinn einer Fahrradstrasse sein?

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  4. Das steht stellvertretendend für den Berliner Evaluierungswahn. Fürs Auto wurde großzügig alles plattgetreten, beim Rückzug des Autos muss man aber alles genauestens untersuchen. Mindestens bis zum Ende der jeweiligen Wahlperiode. Volksentscheid Fahrrad durchziehen.

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    • In den 1950er und 1960er Jahren galten auch noch andere Gesetze und Vorschriften. Wenn man im Jahr 2017 eine Fahrradstraße einrichten möchte, muss man auch die Vorschriften (VwV StVO) und Richtlinien des Jahres 2017 anwenden. Das mag zwar frustrierend sein, andererseits willst du auch, dass die Fahrradstraße als Fahrradstraße angenommen und entsprechend genutzt wird und: Sie sollte auch rechtssicher sein. Denn sonst steht das Schild nur bis das Verwaltungsgericht dem Bezirk mitteilt, dass die Schilder umgehend wieder zu entfernen sind.

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      • Du meinst, so wie die Regeln zur Ausweisung von benutzunggsspflichtigen Radwegen 1997 zu einem massenweisen Abbau der Lollis geführt haben? Ja, ich erinnere mich noch gut an die Berge von Schildern am Straßenrand in ganz Deutschland.

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        • Was ich damit sagen will, natürlich muss alles rechtlich ok sein, aber die Politik sollte sich nicht immer hinter Verwaltungshandeln verstecken, wenn es um den Rückbau von Autoprivilegien geht und “pragmatisch“ werden, wenn es dem Autoverkehr nützt. Die Verwaltung soll letztlich ja dafür sorgen, das politisches Wollen in reale Formen gebracht wird. Ohne politisches Wollen läuft aber eben gar nichts.

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