Qualitätsjournalismus: „Der Anschein einer Vermutung“


 

Wo es nach Blut riecht, sind die Aasgeier nicht weit.

Es muss der Schock gewesen sein, der die gerade eben wie durch ein Wunder dem Unglück Entkommenen davon abgehalten hatte, dem Leichenfledderer, der da mit seiner Handykamera durch die Schneise der Verwüstung lustwandelte und Trümmer, Tote und Verletzte genüsslich auf den Chip bannte, die Fresse zu polieren und ihn mit aus den Trümmern gezogenen Holzbalken über den Tauentzien zu jagen. So begnügten sie sich damit, ihm kurz das Tatgerät aus der Hand zu schlagen und mit ein paar kräftigen Worten klarzumachen, was sie von einer Figur wie ihn halten.
Der Stall des sich vermutlich „Journalist“ nennenden Spanners befindet sich offenbar bei der „Berliner Morgenpost“ – die jedenfalls stellte dieses Blatt das Video zuerst auf seine Webseite. BZ und BILD zogen nach – letztere nur ohne Adblocker sichtbar, denn Klicks allein lassen die Kasse nicht klingeln.

Doch das war nur der Anfang der qualitätsjournalistischen Berichterstattung über die Tragödie vom Breitscheidplatz.

 

Am 19. Dezember twitterte die Berliner Polizei um 20.41 Uhr:
 

 
Nur drei Minuten später meldete u.a. der „Focus“:
 

 
Das war nun doch etwas merkwürdig. Denn auf dem Twitteraccount von dpa ist zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Meldung vom Breitscheidplatz zu finden.

Stattdessen teilt die Berliner Polizei um 21.10 Uhr mit:
 

 
Dass die Polizei um diese Zeit noch keine Ahnung von den Hintergründen hatte, war einleuchtend. Denn Polizei und Feuerwehr, die nur wenige Minuten nach dem Ereignis vor Ort waren, hatten erst einmal alle Hände voll damit zu tun, den Ort zu sichern, Verletzte und Tote zu bergen und Figuren wie jenen Handy-Spanner der Berliner Morgenpost auf Abstand zu halten.

Erst nach dieser Polizeimeldung findet sich ab 21.23 Uhr bei dpa die erste, groß als „Eilmeldung“ klassifizierte Nachricht zum Thema Breitscheidplatz. Allerdings nicht als Eigenmeldung, sondern als weitergegebene Nachricht mit dem Ursprung der Seite „Web.de“, einem Angebot des Telekommunikationsanbieters 1&1.
 

 
Einigen dpa-Followern fällt der Widerspruch zwischen den Polizeinachrichten und jener, die dpa verbreitet hat auf.
 

 
dpa-Nachrichtenchef Froben Homburger ließ die Nachfragen unbeantwortet.
 
Um 21.15 Uhr unterbrach die ARD ihr Programm und ging mit einer Sondersendung der „Tagesthemen“ on air.
In seiner Einleitung sagt Moderator Ingo Zamperoni: „Die Polizei geht dabei ersten Meldungen zufolge von einem Anschlag aus.“ Nicht die Originalquelle – die Berliner Polizei – wird von der Tagesthemen-Redaktion herangezogen, sondern „erste Meldungen“ von irgendwo. Eine Quelle wird nicht genannt.
Warum, bleibt im Dunkeln. Twitter, so die Vermutung, scheint bei bei der Tagesthemenredaktion unbekannt zu sein – ein Blick auf die Tweets von @polizeiberlin hätte Nachrichtensicherheit über die Einschätzung der Polizei zu diesem Zeitpunkt schaffen können.

 

Tagesthemen: Zocken statt berichten

Denn am Montagabend um 21.15 Uhr war die Lage auch für die Polizei noch unklar, die Ursache für das Geschehen hätte unter anderem auch ein technischer Defekt des LKW oder Probleme des Fahrers (Alkohol, Herzinfarkt… – gab es alles schon) gewesen sein können.

Doch die Tagesthemen-Redaktion hatte sich – statt sich auf die bis dahin mageren Ermittlungsergebnisse zu beschränken – aufs Zocken verlegt: Wenn das mir dem Anschlag zuträfe, wäre man fein raus – wenn nicht, auch nicht so schlimm: Schließlich hatte man ja bei den Behauptungen immer eine kleine Einschränkung eingeflochten. Sollen die Leute doch besser hinhören…

 Es wurde SWR-Journalist Michael Stempfle zugeschaltet, im Insert als „ARD-Terrorismusexperte“ gekennzeichnet.
Bei der Begrüßung ließ Zamperoni die Einschränkung seiner schon anfangs fragwürdigen Behauptung weg und sagte: „Der mutmaßliche Anschlag, von dem die Polizei jetzt redet, von dem wir jetzt auch ausgehen, soweit sich das darstellt, hat sich auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche ereignet…“

Zur Erinnerung: Die Polizei sprach zu diesem Zeitpunkt mitnichten von einem „mutmaßlichen Anschlag“. Bekannt war bis dahin lediglich, dass ein LKW aus ungeklärter Ursache in den Weihnachtsmarkt gerast war und es mindestens neun Tote und um die 50 Verletzte gab. Das und nichts weiter waren zu diesem Moment die Erkenntnisse der Polizei.

Also erklärte Stempfle dann auch korrekt, dass die Behörden bisher keine Parallelen zu Anschlägen von Nizza und anderswo sehen.
Doch Zamperoni insistierte immer wieder auf einen Anschlag und versuchte es nun gar mit einer als Frage verkleideten Behauptung: „Ist das jetzt eventuell ein Anschlag dieser Art, wenn es denn einer ist, bei dem man sagt, ja jetzt hat es eben auch in Deutschland diesen Anschlag gegeben?“

Auch diesen Versuch Zamperonis wehrte Michael Stempfle ab: „Ob das ein Anschlag war oder nicht, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt einfach noch nicht sagen“. Man müsse einfach erstmal die Erimittlungen abwarten.

 

„Verbreiten Sie keine Gerüchte“

Spätestens jetzt hätte es genug sein müssen, spätestens jetzt hätte jeder, der sich als Journalist – also als Berichterstatter und Vermittler des Geschehens – versteht, bemerkt: Der momentane Stand der Dinge ist so, wie er ist. Mehr kann derzeit niemand seriös mitteilen.

Nicht so Zamperoni.

Nachdem seitens der Polizei erklärt wurde, dass die Ursachen und Hintergründe des Geschehens noch immer unbekannt sind, nachdem ihm sein Kollege und Interviewpartner Stempfle zweimal dasselbe deutlich gemacht hat, legte der Tagesthemen-Moderator noch einmal nach: „Nun wäre ein Weihnachtsmarkt, der in gewisser Weise ein Symbol auch für das christliche Abendland zur Vorweihnachtszeit ist, ein geeigneter Ort für eine Anschlag…“
 
Möglicherweise hatten die Beamten des Öffentlichkeits-Teams der Polizei die Sendung mitverfolgt – der um 21.30 abgesetzte Tweet jedenfalls lässt das vermuten.

 

 
Da aber Twitter bei den Tagesthemen offenbar nicht im Gebrauch ist, machte der Tagesthemen-Anchorman munter weiter.
Ingo Zamperonis an Esther Neumeier – seine nächste Gesprächspartnerin – gerichtete Bemerkung lautete: „Die Verfolgung des Fahrers, des mutmaßlichen Attentäters läuft ja schon…“

Esther Neumeier ist beim rbb Leiterin von „ARD aktuell“ – und damit anders als Michael Stempfle quasi Teil des Tagesschau-/Tagesthementeams.
Zwei Dinge hatte sie mitzuteilen: Dass es ganz schwer sei, die Pressestelle der Polizei zu erreichen und: „Es ist nicht gesichert, dass ein Anschlag war, die Polizei geht zum jetzigen Moment davon aus, dass es vermutlich einer sein könnte.“
 
Nebenbei bemerkt: Drei Tage später veröffentlichte der rbb ein Video, auf dem laut der Angaben des Senders der – mittlerweile identifizierte – Täter nach seiner Tat vor einer Berliner Moschee zu sehen sein soll.

Das war, wie sich später herausstellte, eine „Fake-News“…
 

Eine runde Viertelstunde nach Neumeiers Behauptung twittert die Berliner Polizei:
 

 
Die Tagesthemen-Redaktion aber focht das nicht an. Und sie handelte konsequent: Auch wenn immer noch keiner wusste, was tatsächlich die Ursache des Ereignisses war, brachte sie dennoch schon mal eine bunte Sammlung von Zusammenschnitten aus dem Archiv, bei der tatsächliche oder mutmaßlichen Terroranschläge der letzten Jahre abgefeiert wurden.
 

 

 
Joachim Huber vom Tagesspiegel hält alles das für eine gute bis hervorragende Leistung.
 

 
Ach ja, der Tagesspeigel…
 

Spekulation statt Information

Dieses Credo war kein Monopol der ARD. Die Webseiten der Tageszeitungen und Magazine von Tagesspiegel bis Spiegel online standen dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Sachen Verbreitung von Mutmaßungen und Gerüchten um nichts nach.
 
Kurz vor 22.00 Uhr teilte die Polizei mit:
 


 
Und stellte zwei Minuten später noch einmal den Stand der Ermittlungen klar:
 

 
Doch was sind schon Ermittlungserkenntnisse der Polizei gegen das… naja…“mutmaßliche“ Wissen des Tagesspiegels,
 

 
Eine Nachfrage brachte zutage, was nach Ansicht des Tagesspiegels – zumindest aber nach der Meinung des Tagesspiegel-Redakteurs Stephan Wiehler – unter seriöser Berichterstattung zu verstehen ist:
 

 

Es muss also nicht mal eine Vermutung sein. Es reicht schon der Anschein einer Vermutung, um das ganze als Quasi-Tatsache zu verkaufen. Qualitätsjournalismus á la Tagesspiegel.
 

„Sicherheitskreise“

Der Einwand, dass sich die Tragödie vom Breitscheidplatz später tatsächlich als ein Anschlag herausstellte, zählt nicht. Denn ein solches spekulatives Gebaren ist nicht nur unseriös – es richtet auch ganz konkreten Schaden an. Wenn schon nicht für die Pokerspieler an den Redaktionsschreibti… pardon! – Newsdesks, so doch für die Opfer ihrer ungehemmten Spekulationswut.
 
Um 21.59 Uhr meldet die Polizei via Twitter:
 

 
Es dauerte gar nicht lange, da war der Tagesspiegel mit einer angeblich relevanten Nachricht zur Stelle.
 

 
Bedenken gegen die Veröffentlichung der Nationalität – in dem Fall besonders absurd: der angeblich zwei Nationalitäten – des Festgenommenen werden vom Qualitätsmedium Tagesspiegel souverän beiseite gewischt.

 

 
Mit einem Link konnten Tretbar, Hesselmann und Co. natürlich nicht dienen. Aber jemand anders erklärte zumindest den Begriff „Sicherheitskreise“ anschaulich und realitätsnah:
 

 
Man könnte also auch schreiben: „Aus dubiosen Quellen…“ – aber das klingt dann eben nicht so bedeutend.

 

 

Natürlich ließen die Reaktionen auf die qualitativ hochwertige Berichterstattung nicht lange auf sich warten:

 

 
Das Ignorieren von Minimalstandards journalististischer Berichterstattung im Bereich Print/Online blieb selbstverständlich nicht allein dem Tagesspiegel vorbehalten.

Am Dienstag Mittag vermeldete die Berliner Zeitung Neues aus ähnlich trüben Quellen wie ihre Konkurrenz:
 

 
Zu was, wenn nicht zum Bedienen der „Argumentation“ von AfD bis NPD, zum Anheizen von Stimmungen sollte eine „Nachricht“ wie diese nützlich sein? Mit dem Anschlag hatte Mitteilung jedenfalls nichts zu tun.

Und: Ein solcher Eintrag in einer Polizeiakte besagt auch nicht, dass der Mann ein sexuelles Delikt begangen hat. Er besagt lediglich, dass irgend jemand so etwas gegenüber der Polizei behauptet hat – ganz gleich, ob wahr oder unwahr.

Doch den Qualitätsjournalisten war das egal. Denn von einem Flüchtling, der sich gerade eines ungeheuerlichen Verdachts ausgesetzt sah, der kaum die deutsche Sprache spricht und der vermutlich auch keine Ahnung davon hat, wie man seine Persönlichkeitsrechte gegenüber Medien verteidigen kann, von dem ist kein Ärger, keine Klage zu erwarten. So einen kann man schon mal unbewiesen öffentlich dem Anschein eines Sexualtäters überhelfen.

Und auch ihn gleich ganz und ohne Einschränkung in der Überschrift zum Täter des Anschlags vom Breitscheidplatz stempeln.

Selbstverständlich unter Nennung des vollen Namens – unter dem machte es die Berliner Zeitung nicht.
 

 
Nicht viel besser auch der Tagesspiegel. Der kürzte zwar den Nachnamen ab, zitierte aber selbst dann noch aus der Polizeiakte unbewiesene Behauptungen, als der Polizeipräsident persönlich Zweifel Attentats-Täterschaft des Betroffenen öffentlich gemacht hatte.
 

 

Statt Einsicht in das eigene Versagen: Selbstmitleid

Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Naved B. befand sich lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort und hatte dazu den Fehler begangen, als „südländisch“ aussehender Mann etwas zu schnell zu einer Bahnstation zu laufen.
 

 

Aber bitte, kein falsches Mitgefühl.

Denn die wirklich Bedauernswerten sind jene, die bei einer solchen „Großlage“ wie dem Attentat vom Breitscheidplatz in den Redaktionen sitzen.

Glauben Sie nicht?

Doch.

Perter Rossberg (BILD) und Stephan „dem-Anschein-nach-liegt-die Vermutung-nahe“ Wiehler (Tagesspiegel) sind dafür die besten Kronzeugen:
 

 

 



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